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Das Leben in Moskau unterscheidet sich bei weitem vom Alltag in Deutschland

Charmoffensive am Kreml

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Onlinewoche-Autorin Alexandra Stark berichtet aus Moskau

Priviet!!!

Vor meinem Fenster tummeln sich grad zehn Straßenköter - ein riesiges Tohuwabohu. Der Frühling ist da. In Moskau und bei den Hunden. Bald werden es noch mehr sein. Die Stadt Moskau, hab ich gelesen, will was gegen die obdachlosen Hunde unternehmen. Hätten sie auch besser im Winter gemacht, dann hätten sie sich die halbe Arbeit sparen können. 
Seit ich aus Sibirien zurück bin, gefällt es mir hier immer besser. Mittlerweile kann ich mich ganz gut auf Russische verständigen, das macht das Leben unglaublich viel angenehmer. Und wenn ich so zurückdenke, wie das am Anfang war, überkommt mich das Grauen. Zum Glück hab ich nicht gewusst, auf was ich mich hier einlasse, sonst hätte ich es glaub ich nicht gemacht.

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Ich habe mehr und mehr zu tun, gestern habe ich für die SDA (Agentur) ein Feature geschrieben, am Dienstag flieg ich für den Internet Standard nach Nowosibirsk. Schon wieder ein Inlandsflug, da graut mir davor. Wie die Maschinen genau aussehen, weiß ich nicht. Ich gebe mir immer Mühe, beim Ein- und Aussteigen nicht hinzuschauen. Vor zwei Wochen sind Stephan und ich nach Sochi geflogen. Das liegt am Schwarzen Meer, an der Grenze zu Georgien. Beim Start dachte ich, meine letzte Stunde
hätte geläutet. Das Ding kam einfach nicht rauf. Es hat dann doch geklappt. Die Stewardessen waren in Zivilkleidung unterwegs. Vielleicht haben sie kein Geld für eine Uniform? Ich habe nicht gefragt.

Ab und zu aus Moskau raus ist ganz gut. Denn hin und wieder bekomm ich hier fast Zustände. Vor zwei Wochen bin ich beim Schwarzfahren im Bus erwischt worden. Das heißt, eigentlich bin ich ich gar nicht schwarz gefahren. Ich hatte ein Billett, genauer gesagt, eine ganze Manteltasche voll. Jedes Mal wenn ich in den Bus steige, stanze ich ein kleines Stück Papier, das ich vorher am Kiosk für drei Rubel, umgerechnet 18 Rappen, gekauft habe im Apparat und stecke es in die Tasche. So haben sich im Verlauf der Zeit ganz viele Tickets mit den verschiedensten lustigen gestanzten Mustern angesammelt.

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Natürlich wusste ich nicht, welches Ticket das richtige ist, als der Kontrolleur mir seinen Ausweis unter die Nase hielt. Ich versuchte es deshalb mit einer gezielten Charm-Offensive: «Sie dürfen wählen!» und
streckte ihm eine handvoll zerknüllter Papierchen entgegen. Der Kontrolleur zeigte nur wortlos auf den an die Wand gepinselten Schriftzug. «Schtraf», was Strafe auf russisch heißt. Und «10 Rubel», etwa 60 Rappen. Anders als in Zürich, wo die Kontrolleure «so, so! S'Frölein hät keis Bileet!» sagen, versuchte er nicht einmal, mir ein schlechtes Gewissen zu machen.

Auch den andern vielen Schwarzfahrern nicht, die ohne die Miene zu verziehen im Bus saßen und gelangweilt ihre Zehn-Rubel-Note bereithielten, als ob sie statt der Strafe nur ein Ticket bezahlen
würden. Das brachte mich auf eine Idee: Drei Rubel kostet ein Billett, ich fahre jeden Tag mindestens vier Mal Bus. Alle Schaltjahre einmal werde ich kontrolliert und muss dann zehn Rubel bezahlen. Man rechne:
Schwarzfahren lohnt sich! 

Eigentlich bin ich doch doof, wenn ich mir immer den Stress mache, oft vergeblich die Kioske nach Tickets abklappere, wenn ich billiger schwarz fahre. Außerdem bekomm ich für die drei Rubel ja auch eine
Gegenleistung und kann Bus fahren. Und wie soll dieses Land aus dem Schlamassel rauskommen, wenn alle erst an sich selbst denken? 

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«Zehn Rubel ist doch viel zu wenig!» hatte ich dem Kontrolleur deshalb gesagt. «Sie müssen mehr verlangen, sonst fahren die Leute immer schwarz!» Er schaute mich nur verständnislos an und dachte sich sicher, «die blöde Ausländerin». So wie die resolute Museumswärterin im Kunstmuseum letzthin auch. In allen staatlichen Museen müssen Ausländer höhere Eintrittspreise bezahlen. Als in Russland wohnhafte Ausländerin habe ich im Prinzip Anrecht darauf, den normalen Preis für Russen zu bezahlen. Im Prinzip, denn die älteren Aufpasserinnen in den Museen kümmert das wenig. Ausländer ist Ausländer ? basta. Die Kassierin weigerte sich standhaft, mir ein billiges Ticket zu verkaufen. Ich packte mein Jahresvisum aus, kramte meine Akkreditierung als Journalistin hervor, nichts half. Zum Schluss tischte ich ihr mein aus
meiner eingeschränkten Schweizer Sicht stärkstes Argument auf und bewies damit, dass ich von Russland noch immer nichts verstanden habe: «Sie werden doch vom Staat finanziert. Ich habe ein Anrecht auf den tieferen Preis, schließlich zahle ich hier Steuern. Und nicht wenig!», sagte ich triumphierend. Die Frau sah mich nur voller Mitleid an und sagte: «selber Schuld!»

Bis bald!

Mit lieben Grüssen aus Moskau

Alex

Eine Kolumne für die Schweizer Zeitschrift "Annabelle"


zurück zur Startseite Erschienen im Rheinischen Merkur Ausgabe:28/97