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Das Tal der Sterbenden Wörter
von Peter Linden ©
(Bei Abdruckwünschen mailen Sie hier)

Im äußersten Nordosten Südtirols kämpft der älteste deutsche Dialekt ums Überleben

 

 

Töldrarisch réidn,
so hear i geang –
und dos sött a niè ondoscht weang!

Eines Tages verschwand der letzte Ploil in Franz Tassers Werkzeugschuppen, und die Ahr schwemmte das Wort fort und die Erinnerung an das Wort. Wenig später verschwand auch die Ferggl, dann der Gonta. Mit jedem Tag, der verging, verloren Franz Tasser und die Menschen im Südtiroler Ahrntal ein winziges Stück ihrer Tradition. Erst, als sie bemerkten, dass der Fluss begonnen hatte, ihre ganze Sprache fortzureißen, erschraken die Ahrntaler. Es ist ein tiefer, stummer Schrecken. Eine Angst, die nur langsam ihren Ausdruck findet. Franz Tasser hält seine Angst auf losen Zetteln fest: Ploil steht drauf, Ferggl, auch Gonta. 115 Wörter hat Franz Tasser aufgeschrieben mit der unsicheren, krakeligen Handschrift eines alten Mannes.

Wer ins Ahrntal reist, kommt natürlich nicht der Sprache wegen. Die Touristen kommen, weil das Ahrntal am Ende der Welt liegt. Weil die Staatsstraße 621 wenige Kilometer hinter Sand in Taufers einfach aufhört. Weil auch der anschließende Almweg zur Quelle der Ahr plötzlich aufhört. Weil sich dahinter höchstens noch uralte Pfade über irgendwelche Pässe stehlen, hinüber nach Osttirol oder in den Tauern-Nationalpark. Weil 80 Dreitausender das Tal bewachen wie die Zinnen und Türme einer natürlichen Stadtmauer. Selbst die Seitentäler des Ahrntales prallen an diese Mauer: Ein Bach, ein Wasserfall, ein Bergsee, ein Gletscher und dann das Ende. Wo man es auch versucht: das Ende der Welt.

Doch diese Entlegenheit wirkte 1000 Jahre lang auch als Vakuumverpackung für Wörter. Der Bozener Sprachwissenschaftler Egon Kühebacher, unumstrittene Autorität unter Südtirols Dialektforschern, nennt das Ahrntal den "sprachlich konservativsten Kernraum" der Alpen. Er entdeckte hier "Archaismen, die seit der althochdeutschen Zeit nahezu unverändert bewahrt geblieben sind". Das Ahrntal sei "Relikt- und Rückzugslandschaft" sprachlicher Denkmäler. Und jedes dieser Denkmäler verrät etwas über die Siedlungs- und Kulturgeschichte der südlichen Alpen. Auch Ploil, Ferggl, Gonta würden etwas verraten, wenn es denn jemand wissen wollte.

Nicht einmal Franz Tasser selbst weiß, weshalb er die Wörter sammelt. Der 77jährige pensionierte Postbeamte aus Steinhaus schreibt sie einfach auf. Und seit er das tut, sammelt er auch die dazugehörenden Gegenstände. Den Ploil zum Beispiel, würde er eigentlich lieber nicht in die Hand nehmen, weil er reine Weibersache ist. Das hölzerne Gerät, das er da unter einem Haufen Holz hervorzieht, sieht aus wie eine halbfertige Handschaufel. Die Oberfläche ist glatt statt hohl. Mit dem Ploil haben die Ahrntalerinnen die Bettwäsche ausgeklopft. Seit Daunenfedern bevorzugt werden, reicht einfaches Ausschütteln. Oder die Ferggl. Mit so einem Holzschlitten hat Franz Tasser im Winter das Heu von seinen Almstadeln ins Tal gezogen. "Oh je, war das weit!", klagt Tasser noch heute, "vier Stunden Marsch zur Alm und vier Stunden zurück". Seit 25 Jahren mäht Tasser die Almwiesen nicht mehr und seine Ferggl vermodert im Werkzeugschuppen.

Vielleicht ist die harte Arbeit früherer Zeiten ein Grund, dass so viele Wörter unbemerkt die Ahr hinunterflossen. Niemand wünschte sich den Ploil und die Ferggl zurück. Und statt der Gonta, dem hölzernen Kasten für Lebensmittel, tun Kühlschränke ihren Dienst. Doch Franz Tasser sucht ohnehin keine Gründe. Er schreibt auf, was ihm in den Sinn kommt. Manchmal trifft er seinen Freund Alois Hofer, "der tut auch ein bisschen forschen". Oder er trifft Klothilde Egger in ihrem Kramerladen. Klothilde forscht nicht, sie dichtet. Begebenheiten, Weisheiten, Kindheitserinnerungen. In einem Gedicht beschreibt die 51jährige, wie ihre Mutter das Muis zubereitete, eine Art flüssigen Kaiserschmarren. Und wie die Kinder jeden Tag wieder das Muis gemeinsam aus der großen Pfanne aßen, mit den Löffeln Grenzen zogen, Bäche für zerflossenes Schmalz gruben und sich um die Scherre stritten, die Kruste am Pfannenboden. Mit der Almwirtschaft ist das Muis verschwunden. Im Hotel Bergland in Steinhaus, bei Klothildes Schwester, kann man es noch bestellen, wenn der Koch gnädig gestimmt ist.

Klothilde schreibt ihre Reime mit der Hand in ein dickes, ledergebundenes Buch. Manche Gedichte hat sie mit Schreibmaschine abgetippt und als lose Zettel beigelegt. Keines hat sie je veröffentlicht. Klothilde glaubt nicht, dass sich jemand außer ihren Freunden für die Gedichte interessieren könnte. Eines hängt gerahmt im Hotel ihrer Schwester: Mitnondo die Leidn trougn/ bol man ans freidit a anondo sougn/ se isch s’Wichtigischte af dea Welt/ weil güita Freinde kannschido net kafn um Geld. Man kann versuchen, Klothilde zu verstehen. Man kann auch einfach zuhören, wie Klothilde es vorträgt. Wie sie die Doppelvokale singt, wie sie fast jedes Wort aus dem Kehlkopf durch die Nase zieht, um es in dunklen Klängen hervorzubringen. Fast scheint es, als müsse sie die Wörter, die die Ahr fortgeschwemmt hat, mühsam ins Tal zurückschleppen.

Auch Ernst Hofer, der Gemeindesekretär, sammelt. Der 37jährige erzählt von "Kindern, die einen nicht mehr verstehen". Ernst Hofer sagt, dass er 300 Wörter gefunden hat, die Anfang November im ersten Gemeindebuch veröffentlicht werden sollen. Ein Ahrntaler Kalender existiert bereits, in welchem Monat für Monat Bräuche, Sprichwörter und alte Fotografien abgedruckt sind, "aber eine echte Bewegung für Sprachpflege wird sich so schnell nicht bilden." Hofer glaubt, dass es ein tief verwurzeltes Minderwertigkeitsgefühl gibt unter den alten Tölderern, wie die Ahrntaler in ihrer eigenen Sprache heißen.

Und das trotz der Wehmut, die aus jedem der Kalenderblätter spricht. "Eines Tages", heißt es dort im September 1999, "war dann kein Höö mehr zu hören gewesen. Es war still geworden zur gewohnten Zeit: Eines Tages war der Stellwagen ausgeblieben." So wich irgendwann nach 1935 die Kutsche dem Postauto, und wieder spülte die Ahr ein Wort davon. Stille. Sie hat etwas Wehmütiges im nordöstlichen Zipfel Südtirols, unterhalb dem Klockerkarkopf, den Italiens Faschisten in ihrem Umbenennenungswahn "Vetta d’Italia" tauften. Einmal sollten alle Ahrntaler Deutsche werden, dann nur noch Italienisch sprechen. Nie wollte einer Töldrarisch hören.

Ob es noch eine Chance gibt für den ältesten deutschen Dialekt? Die Antwort gibt womöglich ausgerechnet der Tourismus, den der Sprachwissenschaftler Kühebacher schon zum "Todfeind" der Südtiroler Sprachinseln erklärt hat. Denn mit jenen, die außer Wanderwegen auch das Leben und die Geschichte des Tales kennen lernen wollen, kehrt Interesse ein für die Toadign, die "komischen Angewohnheiten" der Tölderer. Wer zum Beispiel bei einem Turnier der Ranggler zusieht, wird erfahren, dass die wahre Wettkampfkleidung der Südtiroler Ringer aus einer rupfanen Pfoat sowie einer löidanen Höisn besteht – einem Hanfhemd und einer Lodenhose. Auch der St. Jakober Schnitzer Hermann Reichegger, ein verschmitzter Alter mit dichtem weißem Bart, der unaufhörlich Teufelsmasken mit krummen Nasen und echten Widderhörnern herstellt, kramt gelegentlich Begriffe hervor, die nur das Ahrntal kennt. Und wer alten Menschen wie Franz Tasser begegnet, erhält mit den alten Wörtern Einblick in strenge bäuerliche Hierarchien: Den Hitna gab es, den Kleinbauern ohne Vieh. Der Kleinhäusler hatte zwei Kühe, der Gritzel fünf, der Gritze noch mehr.

Töldrarisch réidn, so hear i geang – und dos sött a niè ondoscht weang! schreibt Klothilde Egger in einem ihrer Gedichte. Vielleicht kommt der Tag, da sie es vorlesen wird in ihrem Kramerladen oder, vor größerem Publikum, im Steinhauser Gemeindehaus: Wie gerne sie die Ahrntaler Sprache hört, und wie sehr sie sich wünscht, dass diese nie verschwinden wird.

Service Tauferer Ahrntal:

Anreise: Mit dem PKW über den Brenner-Pass bis Ausfahrt Brixen, dann Richtung Bruneck, und von dort nach Sand in Taufers am Eingang des Ahrntales.

Unterkunft: 50 Berghütten, Pensionen, Ferienwohnungen sowie Hotels bis zur Vier-Sterne-Kategorie. Zum Beispiel Feldmüllerhof, Schloßweg 9, 39032 Sand in Taufers, Telefon: 0039 0474 677100, mit großem Wellness-Bereich. Halbpension ab 90 Mark pro Person im Doppelzimmer.

Restaurant: Spitzengastronomie auf dem 1480 m hoch gelegenen Berggasthof "Stallila" in 39030 St. Johann, Telefon: 0039 0474 671226. Parkplatz am Ende der Bergstrasse, Donnerstag Ruhetag.

Sehenswürdigkeiten und Aktivitäten: Südtiroler Landesmuseum für Völkerkunde, Herzog-Diet-Strasse 24, 39031 Dietenheim. Telefon: 0039 0474 552087 (Mitte April bis Ende Oktober, Montag geschlossen).

Südtiroler Landesbergbaumuseum, 39030 Prettau, Telefon: 0039 0474 654298 (April bis Mitte November, täglich 9.30 bis 16.30 Uhr, Montag geschlossen).

In St. Johann gibt es außerdem das private Mineralienmuseum Kirchler.

Alpinschule Euro Alpin mit Rafting, Klettersteig, Seilschwingen, Gletschertour und Kinderabenteuer: Jungmannstrasse 17, 39032 Sand in Taufers, Telefon: 0039 0474 678225.

Weitere Informationen: Ferienregion Tauferer Ahrntal, Ahrnerstrasse 95, 39030 Steinhaus, Südtirol. Telefon: 0039 0474 652081, Fax: 0039 0474 652082. E-Mail: tauferer.ahrntal@acomedia.com